Wer in den letzten Jahren im Recruiting tätig war, hat einiges erlebt: Vom verzweifelten Buhlen um Talente über Bewerbungsgespräche, bei denen der Kandidat oder die Kandidatin mit verschränkten Armen fragte: „Was können Sie mir eigentlich bieten?“ – bis hin zu Ghostings, bei denen Bewerberinnen und Bewerber spurlos verschwanden.
Seit Jahren reden wir vom „Arbeitnehmermarkt“. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hatten die Zügel in der Hand: hohe Gehaltsforderungen, Remote-First, Bewerbung per WhatsApp – warum nicht? Doch mit dem wirtschaftlichen Gegenwind, geopolitischer Unsicherheit und sinkenden Stellenausschreibungen fragen sich viele: Dreht sich das Blatt gerade wieder?
Klar ist: Die goldene Zeit der totalen Arbeitnehmerdominanz bekommt Risse. Und gleichzeitig bleibt der Kampf um die besten Köpfe in vielen Bereichen knallhart. Willkommen in der Realität eines zweiseitigen Arbeitsmarktes, der differenzierter ist als je zuvor.
Der Arbeitnehmermarkt – ein kurzer Höhenflug mit Nachwirkungen
Erinnern wir uns kurz zurück. Noch vor wenigen Jahren reichten oft ein paar Klicks auf LinkedIn, ein lockerer Post und schon trudelten qualifizierte Bewerbungen ein. Heute sehen sich viele HR-Teams mit sinkenden Bewerbungszahlen konfrontiert, und zwar nicht in allen, aber in vielen Bereichen.
Recruiting wurde plötzlich zu einem Marketingprojekt, mit Employer Branding auf Instagram, Benefits-Feuerwerken und Bewerbungsgesprächen, in denen die Bewerberinnen und Bewerber die Fragen stellten.
Aber dann kam 2024. Laut dem Indeed Hiring Lab sank die Zahl der ausgeschriebenen Stellen in Deutschland um satte 15 %. Das macht was mit dem Markt. Unternehmen ruderten zurück, weniger Homeoffice-Angebote, stagnierende oder sinkende Gehälter, längere Entscheidungsprozesse.
Und plötzlich mussten sich Bewerberinnen und Bewerber wieder anstrengen.
Doch bedeutet das, dass der Arbeitnehmermarkt tot ist? Nicht ganz. Vielleicht befindet er sich eher in einer Zwangspause.
Wirtschaftsklima als Spielverderber – aber nicht auf Dauer
Ein wichtiger Grund für die Abkühlung auf dem Arbeitsmarkt ist die wirtschaftliche Unsicherheit. 2024 war geprägt von geopolitischen Spannungen, einer angespannten konjunkturellen Lage und politischem Wandel, auch 2025 beginnt nicht mit einem Boom, sondern mit Zurückhaltung.
Viele Unternehmen halten Investitionen zurück, frieren Stellen ein oder schreiben sie gar nicht erst aus. Das erzeugt den Eindruck, der Arbeitgebermarkt sei zurück, mit mehr Auswahl, weniger Anforderungen von Bewerberinnen und Bewerber und mehr Macht in den Händen der Unternehmen.
Aber Achtung: Das ist nur die halbe Wahrheit.
Denn strukturell bleibt der Arbeitsmarkt angespannt. Der demografische Wandel ist keine konjunkturelle Laune, sondern ein langfristiger Megatrend. Die geburtenstarken Jahrgänge verabschieden sich zunehmend in den Ruhestand und der Nachwuchs reicht nicht aus, um diese Lücken zu schließen. Besonders stark trifft es Branchen mit klaren Anforderungen und langen Ausbildungswegen: Handwerk, Pflege, Technik, Bildung.
Diese Lücke wird nicht verschwinden, auch wenn sie sich kurzfristig durch weniger Stellenanzeigen kaschieren lässt.
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Der neue Maßanzug fürs Recruiting
Wer 2025 im Recruiting erfolgreich sein will, muss verstehen, dass Streuverluste teuer geworden sind.
Einfach möglichst viele Bewerbungen generieren, in der Hoffnung, dass schon jemand Passendes dabei ist? Funktioniert nur noch selten und ist in Zeiten knapper Budgets riskant.
Besser: Den Fokus auf die Qualität der Kandidatinnen und Kandidaten legen und genau dort sichtbar werden, wo sich die passenden Menschen aufhalten.
Das bedeutet:
- Marktanalyse pro Stelle
- Zielgruppengerechte Ansprache
- Kanalmix: Von Jobbörsen über soziale Netzwerke bis zu persönlichen Netzwerken
- Geschwindigkeit: Prozesse, die sich anfühlen wie ein guter Espresso: stark, kurz, wirksam
Viele Unternehmen haben in der Vergangenheit versucht, sich mit weichgespülten Benefits und Wohlfühlversprechen auf dem Markt zu behaupten.
Doch 2025 zählen Substanz, Stabilität und Entwicklungsperspektiven wieder mehr.
Bewerberinnen und Bewerber wollen wissen: Was bringt mir dieser Job langfristig? Was passiert, wenn sich das Unternehmen in einem Jahr neu aufstellt?
Wer Antworten auf diese Fragen liefern kann, hat einen klaren Vorteil.
Personalauswahl – jetzt bitte mit Köpfchen
Während sich Anforderungen und Erwartungen auf dem Arbeitsmarkt verändern, wird eines immer deutlicher: Technisches Wissen ist wichtig, aber nicht allein entscheidend.
Gerade in dynamischen Arbeitsumfeldern verändern sich Tools, Systeme und Prozesse rasend schnell. Die Fähigkeit, sich darauf einzustellen, ist Gold wert.
Deshalb rücken sogenannte Future Skills und Softskills immer stärker in den Fokus.
- Adaptionsfähigkeit
- Eigenverantwortung
- Kommunikationsfähigkeit
- Kreativität bei Problemlösungen
Die Herausforderung:
- Diese Fähigkeiten lassen sich nicht aus einem Lebenslauf herauslesen.
Wer heute die richtigen Leute einstellen will, muss Auswahlverfahren neu denken. Klassische Bewerbungsgespräche stoßen an ihre Grenzen, es braucht:
- Strukturierte Interviews mit Fokus auf Verhalten und Problemlösungsansätze
- Realistische Aufgabenstellungen oder Fallstudien, die den Joballtag widerspiegeln
- Teaminterviews, um den Cultural Fit zu prüfen
- Digitale Assessments zur Analyse von Persönlichkeit und kognitiven Fähigkeiten
Der Aufwand lohnt sich. Denn eine Fehlbesetzung ist nicht nur ärgerlich, sie kostet bares Geld und viel Vertrauen.
Zwischen Menschlichkeit und Automatisierung – die Zukunft liegt in der Balance
Ein Lichtblick zum Schluss! Auch wenn der Arbeitsmarkt rauer wird, bleibt das Recruiting ein People Business.
Das bedeutet:
- Technologie unterstützt, aber ersetzt nicht. Tools zur KI-gestützten Bewerberauswahl, Datenanalyse und Automatisierung von Prozessen sind wertvolle Helfer, doch am Ende zählt, ob der Mensch zur Stelle passt.
Bewerberinnen und Bewerber wünschen sich nach wie vor persönliche Kommunikation, Wertschätzung und Transparenz. Wer sie mit automatisierten Standardmails oder unpersönlichen Chatbots abspeist, verliert schnell an Glaubwürdigkeit.
Das Ziel muss sein, ein Gleichgewicht zwischen Technologie und Menschlichkeit zu schaffen. Nur dann wird Recruiting zur echten strategischen Funktion im Unternehmen.
Fazit: Der Arbeitnehmermarkt ist nicht tot – er schläft nur gerade
Wer 2025 im Recruiting erfolgreich sein will, braucht zweierlei, Feingefühl für den Markt und Klarheit im Prozess.
Wer aber bereit ist, genauer hinzusehen, neue Wege zu gehen und seine Prozesse zu hinterfragen, hat beste Chancen, auch in diesem herausfordernden Umfeld die richtigen Menschen zu finden.
Die goldene Mitte zwischen Bewerberfreundlichkeit und Unternehmensrealismus zu finden, ist nicht einfach, aber machbar.
Denn eines bleibt auch 2025 bestehen: Gute Leute sind selten und sie entscheiden sich nicht einfach für den besten Job, sondern für das stimmigste Gesamtpaket.